Navigation

Perspektivwechsel

Teil 1: Durlach

Wenn ich zur Arbeit pendele, hält meine S-Bahn morgens als erstes und abends als vorletztes in Karlsruhe-Durlach. Gerade abends ist dieser Stopp für mich ein Sinnbild für Feierabend geworden. Mit einem Großteil der anderen Passagiere verlassen auch viele meiner Kommilitonen den Wagen, bevor die S-Bahn gerade um diese Jahreszeit zu Sonnenuntergang in entspanntem Tempo in den Hauptbahnhof einrollt.

Kürzlich habe ich mich daran erinnert, wie ich das erste mal in Durlach am Bahnhof gestanden habe. Nach einer mehrtägigen Einführungsveranstaltung für mein Studium hatte man uns dort abgesetzt. Mit der Öffi-App, dem lokalen Abfahrtplan, und wahrscheinlich auch der Hilfe meiner Kommilitonen konnte ich damals das Gleis für die Rückfahrt in meine frisch bezogene Wohnung finden. Ich weiß noch genau, wie froh ich war, die Tür hinter mir zuziehen und in mein eigenes, ruhiges Bett fallen zu können.

Was mir allerdings jetzt erst auffällt, ist, wie sehr sich der Ort doch verändert hat. Ich erinnere mich noch genau, wie sonnig es war. Wie der Bahnhof für meinen Geschmack zu viele Gleise hatte, dafür, dass es doch gar nicht der Hauptbahnhof ist. Wie verlassen von Zügen, aber wie voll von Menschen alles war. Wie ich wahrscheinlich mit der effektiv schlechtesten Verbindung nach Hause gefahren bin, weil ich dem Karlsruher Verkehrsverbund noch nicht vollständig vertraut habe.1

Das hat alles nichts mehr mit dem Durlacher Bahnhof zu tun, den ich jetzt kenne. Der halt Gleise für den KVV und Gleise für den Schienenverkehr der Deutschen Bahn hat. In dem es einen Subway gibt, in dem ich schon ein paar mal nach Feierabend noch mit Freunden ein Sandwich gegessen habe. In dem die Sonne nicht blendet, sondern Zeichen für einen angenehm warmen Feierabend sein kann. Oder in ihrer Abwesenheit vielleicht für einen regnerischen – immerhin weiß ich jetzt, wie ich schnell (und trocken) nach Hause kommen kann.

Aber eigentlich hat sich – im Gegensatz zu weiten Teilen der Karlsruher Innenstadt, in der man ja die Straßenbahn vergraben möchte – recht wenig verändert. Nur die Selbstverständlichkeit, mit der ich der Situation (Bahn, Bahnhof, obligatorische 5-minütige Verspätung) begegne. Ich glaube, manchmal braucht man solche Einsichten, um die unglaublich schönen Momente solcher Selbstverständlichkeiten zu begreifen.

Teil 2: Smart

Meine erste und einzige Digitalkamera habe ich 2008 zu Weihnachten geschenkt bekommen. Das Bild des zugefrorenen Sees ist eins der ersten Bilder, die ich gemacht habe. Allein 2009 muss ich mehr als 4.000 Aufnahmen gemacht haben, die sich in etwa 10 Ordnern mit Namen wie „Urlaub“, „Weihnachten“ und „Nahaufnahmen“ verstecken.

Seit 2014 besitze ich mein aktuelles Handy, Typ „Smart“ – und natürlich mit eingebauter Kamera, die abgesehen vom optischen Zoom ein gutes Stück besser ist, als meine alte Digitalkamera war. Und damit ändert sich auch die Ordnerstruktur meiner Bilder. Die thematischen Ordner für die „großen Events“ werden weniger und kleiner, stattdessen kommen Ordner wie „Mix September“ dazu, in dem man überraschend spektakuläre chemische Farbenspiele findet.

Wie wir Erinnerungen festhalten, spielt eine große Rolle dafür, wie wir uns später an die Ereignisse erinnern werden. Als im Fachgeschäft entwickelte Einzelbilder in einem Fotoalbum, als die 400 JPEGs, die man als 14-Jähriger bei jeder Gelegenheit, bei der man die Kamera in der Hand hält, schießt, oder bei dem vereinzelten Selfie als schnapp-geschossene Erinnerung an einen lustigen Abend mit Freunden.

Ich habe das Gefühl, dass Smartphone-Fotos ein zweischneidiges Schwert sind. Einerseits erlauben sie einen wesentlich realistischeren Querschnitt durch das Leben als die sorgsam gewählten Bilder, wenn der Film nach 36 Stück voll ist, und die sowieso nur entstehen können, wenn man die Kamera gerade dabei hat. Andererseits verliert das photographieren, das ich hier in voller Absicht mit „ph“ statt „f“ schreibe, so seine tolle Eigenschaft als bewusster Akt, in dem man etwas explizit Künstlerisches schaffen kann, dessen optische Qualität man später nicht hinter Instagram-Filtern verstecken muss.

Von dem Bahnhof in Durlach, wie er sich mir vor inzwischen zweieinhalb Jahren präsentiert hat, habe ich kein Foto gemacht. Ich weiß nicht, ob das meine heutige Sicht auf damals in einen schlichten Realismus zurückholen, oder sogar noch weiter romantisieren würde.

Erinnerungen und ihre Verbildlichung sind nämlich auch ein zweischneidiges Schwert. An bestimmte Dinge aus meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich nur, weil ich Fotos davon gesehen habe. Umgekehrt habe ich wahrscheinlich aber auch ein paar echt schöne Momente in Familienurlauben verpasst, weil ich mit meiner Digitalkamera das x-te Foto von den Bergen geschossen habe.

Dann wiederum erzählen meine Eltern manchmal auch sehr traurig davon, dass sie fast gar keine Fotos aus ihrer Studienzeit haben. Ich hoffe, dass ich für mich den richtigen Mittelweg aus „das Jetzt genießen“ und „Erinnerungen festhalten“ gefunden habe. Wissen werde ich es vielleicht nie.

Teil 3: Durchblick

Seit ein paar Tagen habe ich eine neue Brille – zum ersten Mal seit mehr als 5 Jahren. Und zum ersten Mal seit mehr als 5 Jahren fällt mir jetzt wieder auf, wie sich das anfühlt, so mit einer neuen Brille.

Brillenträger werden mir zustimmen: In vielen Situationen vergisst man einfach, dass man gerade eine Brille trägt. Ich bin schon ins Schwimmbad gegangen und habe mich erst am Beckenrand gefragt, warum alles so scharf aussieht – bis mir aufgefallen ist, dass ich meine Brille noch an hatte. Umso mehr bemerkt man die Sehhilfe aber, wenn man sie gerade gewechselt hat. Man spürt das Gewicht der neuen Brille, spürt das geänderte Sichtfeld. Beim Richten fällt die geänderte Form der Fassung auf.

Und man sieht die Dinge ganz anders, denn in der Regel hat sich mit der neuen Brille auch die Sehstärke geändert. Ganz zu Anfang ist das furchtbar anstrengend, so viele Details in der Welt anders – stärker und schärfer – wahrzunehmen. Man kann den Finger nicht genau drauf legen wie, aber die Optik hat sich verändert und man nimmt Dreidimensionalität anders wahr. Alles wird irgendwie kleiner oder größer. Ich persönlich habe mit der neuen Brille das Gefühl, als würden meine Augen ein paar Zentimeter höher über dem Boden sitzen, und das ist ein ganz verwirrendes Gefühl.

Wahrscheinlich sind diese Auswirkungen mit einem guten Schuss Placebo-Effekt zu erklären – viele gute Gründe sagen mir, dass ich durch Aufsetzen der neuen Brille nicht gewachsen bin. Ich bin auch nicht älter geworden, was die Fremdwahrnehmung von mir mit der neuen Brille ist. Auch wenn auch in dieser Aussage eine gewisse Wahrheit steckt.

Abschied von langjährigen stummen Begleitern – insbesondere Brillen, aber auch Jacken oder Bettwäsche – für ein neues Modell markieren irgendwie immer einen Wechsel in Persönlichkeit oder Lebensumständen. Oder sind zumindest Symbol für eine schleichende Veränderung, die im Leben ja irgendwie immer stattfindet.

„A book you finish reading is not the same book it was before you read it“, schreibt David Mitchell in einem seiner Romane. So ist es wahrscheinlich immer, auch bei Bahnhöfen, Fotos, Brillen und dem Rest des Lebens.

Letzten Endes ist wahrscheinlich alles eine Frage der Perspektive.


  1. Ein Vertrauen, von dem ich heute noch manchmal abzurücken rate. ↩︎


Ebenfalls erschienen im Neologismus 17-03

Mehr lesen